Physik des Rauschens

Die Datenwissenschaften können dabei helfen, Lösungen zu finden, mit denen erneuerbare Energien besser für die Stromversorgung genutzt werden können. Credit: Jason Richard/unsplash

HDS-LEE-Absolvent Leonardo Rydin Gorjão erforscht, wie sich eine konstante Stromversorgung mit erneuerbaren Energiequellen gewährleisten lässt. HIDA's Austauschprogramme haben ihm Aufenthalte an verschiedenen Helmholtz-Zentren und eine enge Vernetzung innerhalb der Gemeinschaft ermöglicht.

Unser Gesprächspartner Leonardo Rydin Gorjão

Herr Rydin Gorjão, Sie haben für Ihre Dissertation ein Thema aus dem Bereich der erneuerbaren Energien gewählt. Der Titel Ihrer Arbeit lautet: „Stochastic time series analysis in electric power systems and paleo climate data“. Können Sie erläutern, wozu genau Sie geforscht haben?

Bei meiner Forschung ging es vor allem um die Frage: Wie lässt sich unsere Stromversorgung in den Stromnetzen zuverlässig aufrechterhalten? Können wir auch dann durchgängig Strom liefern, wenn wir ihn zum Beispiel ausschließlich von der Sonne oder vom Wind gewinnen? Diese Energiequellen werden üblicherweise als „volatil“ oder „fluktuierend“ bezeichnet. Manche Leute würden sagen: unzuverlässig.

Das ist eine der Fragen, die ich untersuchen wollte: Sind sie wirklich unzuverlässig? Mathematiker beschreiben diese Vorgänge mit stochastischen Prozessen, die in dem Fachbereich an sich schon ein großes Forschungsgebiet sind. Dieses lässt sich auf die Mathematik der Daten und des Zufalls sowie die Erforschung des Rauschens, wie wir es nennen, reduzieren.

Warum waren stochastische Prozesse für Ihre Forschung so interessant?

Sie bieten uns die Möglichkeit, die „Unbeständigkeit“ von Stromsystemen zu analysieren und zu simulieren. Das ist insofern wichtig, da sich diese negativ auf die Stabilität eines Stromnetzes auswirken kann. Es gibt verschiedene zeitliche Rahmen, in denen potenzielle Probleme auftreten. So kann zum Beispiel die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien innerhalb eines Zeitraums von wenigen Sekunden stark schwanken, sie nimmt aber auch zwischen Nacht und Tag entsprechend zu und ab. Außerdem kann die Stromerzeugung im Laufe einer Woche unterschiedlich intensiv sein und manchmal sogar sieben Tage lang komplett ausfallen. Der Schwerpunkt meiner Forschung lag auf den messbaren Auswirkungen der Stromerzeugung auf der Ebene der Netzfrequenz, die wir üblicherweise mit 50 Hertz angeben.

Diese Schwankungen wirken sich nachteilig auf die Anlagen der Stromversorgungssysteme und die eigentlichen Generatoren aus. Das zieht stets die Frage nach sich, ob erneuerbare Energien zuverlässig sind. Ich habe keine Bedenken zu sagen, dass das eindeutig so ist – wir wissen um die Folgen ihrer Verwendung in Energiesystemen und wir wissen auch, wie wir damit umgehen müssen. Die wissenschaftliche Forschung hilft uns nur dabei, unser Wissen zu verbessern und bessere Lösungen zu finden, um erneuerbare Energien stärker nutzen zu können.

Die Komplexität hinter den Energiesystemen zu verstehen, ist etwas, was die Welt jetzt wirklich braucht. Das ist ein Problem, das wir lösen müssen.

Leonardo Rydin Gorjão

Wie sind Sie bei Ihrer Forschung vorgegangen?

Für meine Arbeit habe ich mir vor allem die Daten angesehen: Was für Daten haben wir? Wie sehen die Daten aus? Welche Eigenschaften haben sie? Können wir uns die Daten verschiedenster Energiequellen ansehen und folgende Fragen beantworten: Sind sie wirklich volatil? Lassen sich für die Daten starke Amplituden bei den Schwankungen oder ein Rauschen feststellen? Das war der größte Teil der Arbeit.

Im zweiten Teil ging es um Paläoklimadaten – also das Klima der Vergangenheit – und einige Verfahren zur Analyse vergangener Prozesse und ihres Rauschens. Ich sollte anmerken, dass diese Themen kaum miteinander zu tun haben, aber als Physiker wollte ich verschiedene Prozesse mithilfe eines ähnlichen mathematischen Rahmens verstehen. Hinzu kommt, dass die Untersuchung des Klimas der Vergangenheit – die hier teilweise bis zu 100.000 Jahre zurückreicht – wichtig ist, wenn es darum geht, das Klima der Gegenwart zu verstehen.

Warum haben Sie sich gerade dieses Thema ausgesucht? Ging es Ihnen Aktualität?

Was mich vor allem dazu bewogen hat, war eigentlich nicht das Thema selbst, sondern die Modelle. Ich wollte unbedingt die Physik hinter dem Rauschen verstehen, das bis zu einem gewissen Grad sehr ähnliche Eigenschaften aufweisen kann – egal, ob es um Daten von Energiesystemen, Klimaaufzeichnungen oder Aktienmärkten geht. Ich wollte verstehen, was diese Prozesse ausmacht. Aber dann sagte ich mir: Wenn ich schon nach Werkzeugen suche, um ein Problem zu verstehen, dann sollte ich mir auch ein Thema aussuchen, für das es sich lohnt, eine Lösung zu finden. Und die Komplexität von Energiesystemen zu verstehen, ist etwas, was die Welt jetzt wirklich braucht. Das ist ein Problem, das wir lösen müssen.

Von 2019 bis 2021 gehörten Sie zur ersten Kohorte von Doktorandinnen und Doktoranden an der Helmholtz School for Data Science in Life, Earth and Energy (HDS-LEE) in Jülich. Weshalb haben Sie sich für diese Graduiertenschule entschieden?

Die Entscheidung war ziemlich einfach: Nachdem ich 2018 mein Masterstudium der Physik an der Universität Bonn abgeschlossen hatte, ging ich ans Forschungszentrum Jülich, um meine Doktorarbeit anzufangen. Ich war bereits seit einem Jahr Doktorand, als ich von der HDS-LEE erfuhr. Das Graduiertenprogramm war damals noch neu, der Schwerpunkt lag auf Datenwissenschaften – genau wie in meiner Arbeit. Also dachte ich: perfekt!

Können Sie beschreiben, was Sie an Data Science besonders interessiert?

Ich wollte immer schon wissen, was wir aus Daten lernen können – und zwar mehr als wenn wir Theorien entwerfen. Die klassische Physik ging eher in eine andere Richtung: Man stellte eine Hypothese über etwas auf, ging dann ins Feld, prüfte sie jahrelang und kehrte mit der Antwort zurück: ja oder nein. Fragt man jedoch moderne Wissenschaftler, so ist diese Vorgehensweise in den meisten Fällen nicht mehr geeignet, um ein Problem zu behandeln. Um wirklich zu verstehen, wie die Dinge sind, muss man bei den Daten anfangen. Die Antwort steckt in den Daten, noch bevor Sie vielleicht eine Theorie dazu haben.

Für Klimawissenschaftler zum Beispiel gilt das ganz offensichtlich. Der gesamte Klimaprozess ist viel zu komplex, als dass einfach jemand sagen könnte: Ich habe eine Theorie dazu! Stattdessen sammelt man so viele Daten wie nur möglich und versucht, sie zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzufügen. Hier beginnt es, wirklich spannend zu werden: Man hat die Daten – aber was sieht man da eigentlich? Und warum? Was kann man daraus erfahren? Und wie kommt man von den Daten zu einer Theorie, die sich vorzeigen lässt?

Die HDS-LEE ist eine von sechs Graduiertenschulen für Data Science der Helmholtz-Gemeinschaft. Wie fanden Sie es dort?

Ich war wirklich froh, einem solchen Netzwerk anzugehören. Ich muss aber zugeben: Als ich an die HDS-LEE ging, hatte ich keine Ahnung, wie groß die Helmholtz-Gemeinschaft tatsächlich ist. Dann fing ich an, die Forschungszentren zu zählen – und sah, wie sich die Welt vor mir auftat!

Bei Helmholtz gibt es 18 Forschungszentren in allen Teilen Deutschlands...

Und die Doktoranden aller sechs Schulen waren stark untereinander vernetzt. Die Schools haben uns dazu gebracht, viel miteinander zu interagieren. Und da ich meine Dissertation mitten in der Pandemie schrieb, hatten wir viele Online-Meetings und haben uns gegenseitig unsere Arbeit vorgestellt.

Haben Sie dabei gute Kontakte geknüpft?

Definitiv. Während einer dieser Präsentationen stellten ein anderer Doktorand an der HDS-LEE und ich fest, dass wir sehr ähnliche Fragen zu Daten hatten, obwohl sein Forschungsprojekt ganz anders war als meines. In seiner Arbeit ging es in erster Linie um Modelle des maschinellen Lernens – „Black Boxes“ – und insbesondere um Generative Adversarial Networks. Diese Modelle werden genutzt, um sehr komplizierte Prozesse vorherzusagen: Man hat im Grunde eine große Datensammlung und möchte anhand dieser Daten mögliche Zukunftsszenarien vorhersagen. Deshalb baut man mit den Daten ein Machine-Learning-Modell, um damit Antworten zu finden.

Im Hinblick auf die Forschung ging ich von der anderen Seite aus da ran. Meine Frage war: Was können wir anhand der Daten lernen, die aus dieser "Zaubermaschin"e stammen? Ist die Physik hinter den neuen Daten immer noch dieselbe? Oder haben diese „Black Boxes“ die Daten in ihrem Wesen irgendwie verändert? Wir waren beide gespannt auf die Antworten. Um das zu untersuchen, hatte ich einige Methoden, die ich in meinen Forschungsprojekten häufig einsetzte. Wir begannen zu reden und zusammen zu arbeiten. Dies war eines der unerwarteten Ergebnisse meines Aufenthalts an der HDS-LEE – dass ich sofort Anschluss an eine Doktorandengruppe fand.

Dieser Austausch hat mir etwas gegeben, was meiner Meinung nach am Ende einer Promotion sehr wichtig ist. Ich begann, über mein eigenes Forschungsthema hinaus in die Außenwelt zu blicken.

Leonardo Rydin Gorjão

Während Ihrer Zeit an der HDS-LEE haben Sie am HIDA Trainee Network teilgenommen, einem interdisziplinären Austauschprogramm innerhalb der Helmholtz-Gemeinschaft für Data Scientists. Wohin sind Sie gegangen?

Das Trainee Network führte mich ans Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oldenburg. Ich wollte mehr darüber zu erfahren, wie man Berechnungsmodelle aufbaut, mit denen sich die Vorgänge in Stromnetzen simulieren lassen. Auf diesem Gebiet verfügen sie dort über viel mehr Fachwissen als ich. Im Rahmen des HIDA Trainee-Networks hatte ich die Gelegenheit, während der Pandemie an ihren Online-Sitzungen teilzunehmen. Ich lernte viel über ihre Methoden, Fähigkeiten und ihr Instrumentarium sowie darüber, mit welchen Fragen sie sich befassen. Verschiedene Ingenieure des DLR arbeiten an kleinsten Zeitabschnitten in den Stromnetzen: Sie simulieren, was in Stromnetzen innerhalb von Mikrosekunden passiert, und versuchen herauszufinden, ob sich ihre Maschinen falsch verhalten oder durch die Quellen Erneuerbarer Energien negativ beeinflusst werden.

Würden Sie das Trainee-Netzwerk als Forschungsoption empfehlen?

Definitiv! Zwei Monate lang an ein anderes Helmholtz Zentrum gehen zu können, war eine der besten Chancen, die ich mir vorstellen konnte. Ich hoffe, dass die Doktoranden und Postdocs bei Helmholtz diese Möglichkeiten noch stärker nutzen werden. Helmholtz ist eine dieser Einrichtungen in Deutschland, wo man garantiert jemanden findet, der ähnliche Forschung wie man selbst betreibt. Vielleicht ist es nicht die Person von nebenan, sondern jemand, der am anderen Ende Deutschlands sitzt. Aber es gibt diese Leute – und jetzt hat man die Möglichkeit, mit ihnen zusammenzuarbeiten und sie zu besuchen!

Hat Ihnen das Trainee-Netzwerk bei Ihrer Karriereplanung geholfen?

Dieser Austausch hat mir etwas gegeben, was meiner Meinung nach am Ende einer Promotion sehr wichtig ist. Ich begann, über mein eigenes Forschungsthema hinaus in die Außenwelt zu blicken. Was machen meine Kollegen und Kolleginnen? Was sind die größeren Forschungsfragen in meinem Bereich? Und woran arbeiten meine Kollegen in ganz Deutschland? Welche Herausforderungen hatten sie zu bewältigen und wie haben sie das hinbekommen?

Unsere internationalen Austauschprogramme

Nach Ihrer Dissertation haben Sie mit Wissenschaftlern aus Norwegen zusammengearbeitet und ein Stipendium in Japan erhalten. Ist Forschung im Ausland für Nachwuchswissenschaftler wichtig?

Das hängt sehr stark vom Thema ab, über das man forscht. Lange Zeit war es im wissenschaftlichen Bereich üblich, irgendwo zu studieren und dann ins Ausland zu gehen, um zu sehen, wie die Dinge anderswo funktionieren. Heutzutage, mit all den Möglichkeiten der Online-Zusammenarbeit, muss man nicht unbedingt woanders hingehen, um kompetente Forschungsarbeit zu machen. Aber es ist sehr wichtig zu wissen, dass es in verschiedenen Teilen der Welt andere Forschungsmentalitäten gibt. Wenn man beispielsweise nur in deutschen Einrichtungen arbeitet, stellt man auch nur „deutsch-zentrierte“ Forschungsfragen – und das ändert sich, wenn man international kooperiert. Es erweitert den eigenen Blick. Das ist für mich der entscheidende Punkt.

Heute sind Sie an der Norwegischen Universität für Biowissenschaften (NMBU) in Ås tätig, rund 30 Kilometer südlich von Oslo. Von dort kehrten Sie zu einem Forschungsaufenthalt im Rahmen des HIDA-Austauschprogramms mit Norwegen zu Helmholtz zurück. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Dieses Austauschprogramm ist eine Kooperation zwischen dem norwegischen Forschungskonsortium für künstliche Intelligenz (NORA) und seiner Partner-Institution HIDA. Als Doktorand oder Postdoc kann man im Rahmen eines selbst organisierten Forschungsprojekts Zuschüsse für Unterkunft und Reisen beantragen. Das gab mir die Gelegenheit, im Dezember 2022 Benjamin Schäfer und seine Forschungsgruppe am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zu besuchen, die sich ebenfalls mit Anwendungen des maschinellen Lernens in Stromnetzen befasst. So konnte ich an einer großen Konferenz in Südafrika teilnehmen und die Kooperation mit der Grid Related Research Group unter der Leitung von Jacques Maritz an der University of the Free State stärken. Da ich im Januar 2023 meine neue Stelle als außerordentlicher Professor für Physik an der NMBU antrat und noch Mittel übrig hatte, lud ich einen vielversprechenden Studenten des Forschungszentrums Jülich zu einem Besuch der NMBU ein.

Drei Wochen lang haben wir hier in Ås gemeinsam an Anwendungen des maschinellen Lernens für Strompreisprognosen gearbeitet. Ich hoffe natürlich, dass noch mehr Menschen die Kooperationsinitiativen von Helmholtz und das Forschungsnetzwerk der Gemeinschaft nutzen werden.

 

Das Interview führte Andrea Walter

Alternativ-Text

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